Überlebende eines schweren Unfalls leiden oft lange an den Folgen. Manche haben entstellte Gesichter oder verlieren ganze Gliedmaßen. Doch die Plastische Chirurgie kann ihnen helfen. Eine junge Ärztin begründet 1958 diese Disziplin in Deutschland und wird zum Vorbild für eine ganze Generation von Chirurginnen und Chirurgen.
Es ist das erste Mal, dass Ärztinnen und Ärzte einem Unfallopfer zwei vollständige Arme transplantieren: Ein Landwirt aus dem Allgäu verlor beide Gliedmaßen, weil er in einen Maishäcksler geriet. Nie zuvor wurde einem Menschen eine so große Menge an fremdem Gewebe transplantiert. Die OP ist ein Erfolg: Einige Jahre später kann der Patient wieder ohne fremde Hilfe Fahrrad fahren und einen Traktor steuern.
Eine medizinische Sensation, und sie findet 2008 genau dort statt, wo 50 Jahre zuvor diese Art der Chirurgie in Deutschland ihren Anfang nimmt: dem Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München. 1958 baut die junge Ärztin Ursula Schmidt-Tintemann hier eine Station für plastisch-chirurgische Eingriffe auf – die erste dieser Art in der Bundesrepublik.
Sie hilft vor allem Brand-, Säure-, Kriegs- oder Unfallopfern. Mit ihren Kolleginnen und Kollegen stellt sie Gesichter und verletzte Körperteile wieder her. Sie verpflanzen Gewebe wie Haut, Nerven oder Knochen, um zerstörte Körperbereiche zu modellieren und Wunden zu schließen. Schmidt-Tintemanns Ziel ist vor allem eines: Menschen heilen und helfen. Aus ganz Deutschland kommen Ärzte und Ärztinnen nach München, um sich von ihr ausbilden zu lassen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es die plastische Chirurgie bereits in anderen Ländern. In Deutschland fehlt dieses Fach noch vollständig. Bei einem Studienaufenthalt in Wien entdeckt Ursula Schmidt-Tintemann das Gebiet für sich, in den USA und Großbritannien lässt sie sich in „plastic surgery“ ausbilden. Als sie 1958 ihre eigene Abteilung am Klinikum rechts der Isar eröffnet, ist dies die Geburtsstunde der Plastischen Chirurgie in Deutschland.
Eine Frau, die ein chirurgisches Fachgebiet begründet – noch heute ist das in der männlich dominierten Chirurgie eine Besonderheit. In den späten 1950er-Jahren ist es fast eine Sensation. Mit ihrer Arbeit als Ärztin, ihrer Durchsetzungskraft und ihren ethischen Grundsätzen prägt Ursula Schmidt-Tintemann die Plastische Chirurgie tiefgreifend. Sie macht die Disziplin in Deutschland zu einer angesehenen Fachrichtung mit hohen moralischen und ethischen Standards. Schmidt-Tintemann wird zum Vorbild für eine ganze Generation von plastischen Chirurgen und Chirurginnen.
Schmidt-Tintemann sieht ihre Arbeit als rekonstruktive chirurgische Disziplin: Sie soll Form, Funktion und Ästhetik des Körpers wiederherstellen und ist streng nach medizinischen Indikationen ausgerichtet. Der rein kosmetischen Chirurgie steht Schmidt-Tintemann Zeit ihres Lebens misstrauisch gegenüber. „Leider wird der Begriff Plastische Chirurgie oft missbraucht“, bedauert sie, „er beinhaltet viel mehr als nur Schönheits-OPs“. Aber sie lehnt Eingriffe, die ausschließlich der Ästhetik dienen, nicht generell ab. Voraussetzung für solche Operationen sind für sie zum Beispiel psychologische Gründe.
„Als Pionierin ihres Fachs hat sie der medizinischen Fakultät der TUM und dem Klinikum rechts der Isar nationales Renommee und internationale Sichtbarkeit verschafft. Sie ist sowohl fachlich als auch ethisch ein Vorbild für nachfolgende Ärzte-Generationen in der ästhetisch-plastischen Chirurgie und gilt als Rollenmodell für Ärztinnen in der Medizin.“
Wolfgang A. Herrmann, Präsident der Technischen Universität München