Was Albert Einstein vorhergesagt hat, gelingt 1995 einem ehemaligen Physik-Studenten der Technischen Universität München (TUM). Wolfgang Ketterle erzeugt einen neuen Aggregatzustand: ein Quantengas. Es entsteht bei tiefsten Temperaturen, fast am absoluten Nullpunkt. 2001 wird er dafür mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
In der Nacht des 29. September 1995 geschieht es: Ein dunkler Punkt zeichnet sich auf dem Computer-Monitor in Wolfgang Ketterles Physik-Labor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) ab und der Schatten der Atomwolke wird immer schärfer. Ketterle und sein Team arbeiten die ganze Nacht durch, und dann ist es klar: Sie haben Natriumatome in einen neuen Aggregatzustand versetzt – und zwar bei den tiefsten bis dahin je erzeugten Temperaturen: knapp unter einem Mikrokelvin, also weniger als ein Millionstel Grad über dem absoluten Nullpunkt.
Bei dieser Kälte vernetzen sich Atome, die vorher eigenständig waren, zu einem einzelnen Quantenzustand und bilden ein „Quantengas“, wie Ketterle diese neue Form der Materie nennt. Einzelne Teilchen sind nun nicht mehr zu unterscheiden, denn sie bilden eine einzelne, makroskopische Materiewelle. Dieses Phänomen der Quantenphysik hat Albert Einstein zwar bereits 1924 vorausgesagt, aufbauend auf einer Veröffentlichung seines indischen Kollegen Satyendra Nath Bose zur Photonenstatistik. Doch die Fachwelt hielt es lange für fast unmöglich, ein solches Bose-Einstein-Kondensat (BEC) tatsächlich zu erzeugen.
Ketterle gelingt es – und er erhält dafür 2001 den Physik-Nobelpreis, zusammen mit Eric Cornell und Carl Wieman. Auch wenn diese beiden im Wettrennen um das Quantengas einige Monate schneller waren: Ketterles Team vereint deutlich mehr Atome in einem BEC, und macht ebenfalls grundlegende Entdeckungen über die quantenmechanischen Eigenschaften dieser neuen Materieform.
Wolfgang Ketterle forscht heute am MIT wieder auf dem Gebiet, in dem er auch sein Physik-Diplom in München abgelegt hat: der Vielteilchenphysik. Er war 1978 zum Hauptstudium aus Heidelberg an die TUM gewechselt, weil sie „auf vielen Gebieten der Physik exzellent ist“, erinnert er sich. Mit einer Arbeit über die Spin-Relaxation ungeordneter Materialien schließt Ketterle 1982 sein Studium ab. Und vielleicht reift diese Erkenntnis, die ihn zum Nobelpreis bringt, schon während seiner Zeit an der TUM: „Wenn etwas als unmöglich bewiesen oder angenommen wird“, solle man das Kleingedruckte genau lesen – und „überlegen, ob man die Annahmen nicht irgendwie überlisten kann.“
Quanteneffekte und viele andere Geheimnisse offenbart die Materie erst nahe dem absoluten Nullpunkt von minus 273,15 °C – also Null Grad auf der Kelvin-Skala. Denn dort haben die Atome ihre thermische Energie verloren, die sonst ihre Eigenschaften bestimmt. Sie stehen still. Den tatsächlichen Nullpunkt zu erreichen, ist zwar physikalisch unmöglich. Doch die moderne Physik kommt ihm bis auf Bruchteile von einem Milliardstel Grad nahe. Zum Beispiel mit der Laserkühlung: Die Atome können ihre Energie in Form von Licht abgeben. Weitere Techniken schließlich entfernen die energiereichsten Atome aus der Probe – bis sich ein Bose-Einstein-Kondensat bildet.
Der kälteste Punkt im bekannten Universum könnte 2018 auf der Internationalen Raumstation ISS entstehen: Ein Bose-Einstein-Kondensat im Weltraum. Dafür schickt die NASA im Mai 2018 das „Cold Atom Laboratory“ (CAL) ins All. Es ist so groß wie ein Kühlschrank und wird von Forscherinnen und Forschern auf der Erde ferngesteuert, mit Beteiligung der Nobelpreisträger Cornell und Ketterle. Die Forschenden erhoffen sich Antworten auf fundamentale Fragen der Physik, etwa wie Einsteins Relativitätstheorie und die Quantenphysik zusammenhängen. Die Experimente in der annähernden Schwerelosigkeit auf der ISS versprechen tiefe Einblicke in die Quantenmechanik. Denn dort kann man ein BEC für bis zu 10 Sekunden beobachten, ohne Gravitationskräfte zu kompensieren.
„Wenn sich ein Gas aus unkoordinierten Atomen in ein Bose-Einstein-Kondensat verwandelt, ist dies, wie wenn die einzelnen Instrumente eines Orchesters mit ihren unterschiedlichen Tönen und Klangfarben, nachdem sie jedes für sich aufgewärmt wurden, alle gemeinsam denselben Ton anstimmen.“
Prof. Sune Svanberg, 2001, Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften, bei der Verleihung des Physik-Nobelpreises