Die weltweiten Datenströme wachsen rasant. Sie zu bewältigen ist eine der größten Herausforderungen im Digital-Zeitalter. Drei Nachrichtentechniker der Technischen Universität München (TUM) entwickeln dafür einen Algorithmus, der bis an die Grenze des theoretisch Machbaren geht.
Zehntausende HD-Filme gleichzeitig könnten sie mit dieser Internetleitung streamen: Drei Nachrichtentechniker der TUM stellen 2016 einen Weltrekord auf, als sie ein Terabit pro Sekunde durch ein begrenztes Frequenzband von einem einzelnen, hauchdünnen Lichtleiter eines Glasfaserkabels jagen. Das ist fast die höchste Geschwindigkeit, die in diesem Glasfaserkanal überhaupt denkbar ist. Georg Böcherer, Fabian Steiner und Patrick Schulte heißen die drei Forscher der TUM, die die Technik für ihren Weltrekord zusammen mit dem renommierten Industrielabor Bell Labs entwickeln.
Ihr Trick: Sie kehren zu den mathematischen Grundlagen der Informationstheorie zurück und programmieren einen einfachen Algorithmus, der mit Wahrscheinlichkeitsrechnung arbeitet. „RateX“ nennen sie ihn. Er passt die Signale flexibel an die Übertragungsbedingungen eines jeden Kanals an, egal ob Transatlantikkabel von tausenden Kilometern oder kurze Funkverbindungen zu Industrierobotern im Internet der Dinge.
„Es ist eine universelle Architektur für alle Kommunikationsgeräte“, sagt Professor Gerhard Kramer, an dessen Lehrstuhl für Nachrichtentechnik die drei Ingenieure forschen. Die ersten Chips mit diesem Algorithmus kommen 2018 bereits auf den Markt und sollen das Internet massiv beschleunigen – zum Beispiel für die neue Mobilfunkgeneration 5G, für Cloud-Dienste oder Videostreams. Kramer erwartet: In etwas mehr als 10 Jahren steckt RateX standardmäßig in Milliarden von Geräten.
Ob Glasfaser, Luft oder Kupferkabel: Jeder Nachrichtenkanal hat Widrigkeiten, die seine Übertragungskapazität auf ein bestimmtes Maß begrenzen. Dies ist das Shannon-Limit, benannt nach dem Informationstheoretiker Claude Shannon. In der Praxis ist diese Grenze kaum zu erreichen, doch der an der TUM entwickelte Algorithmus geht nah an dieses Limit heran. Er moduliert die Signale mithilfe von Wahrscheinlichkeitsrechnung. Dadurch schickt er nur solche Lichtwellen durch das Glasfaserkabel, welche die geringste Leistung benötigen. „Probabilistic Constellation Shaping“ (PCS) heißt das Prinzip. Zudem codiert er die Daten so, dass der Chip am Ende der Leitung sie fast verlustfrei wiederherstellen kann. Dafür verpackt er sie in Symbolketten mit fester Reihenfolge, die komplett reversibel sind. Das Ergebnis: Daten werden schneller, verlässlicher und über weitere Strecken übertragen.
Ganz bewusst schützen die drei Erfinder aus der TUM ihren Weltrekord-Algorithmus nicht mit einem Patent, sondern stellen ihn öffentlich zur Verfügung. Und schon Monate nach ihrem aufsehenerregenden Versuch testen die ersten Internetkonzerne diese Technik und können die Leistung ihrer Transatlantikkabel damit mehr als verdoppeln. Ein erster Schritt zu einem neuen, weltweiten Standard, um den rasant wachsenden Datenverkehr zu bewältigen. Denn die Glasfaserleitungen am Boden der Ozeane schultern einen großen Teil des weltweiten Datenverkehrs, der bis 2021 auf 3,3 Zettabyte anwachsen soll, das 127-fache von 2005. Doch bisher konkurrieren die Betreiber dieser Leitungen mit proprietären, also geheimen Standards um die schnellste Leitung.
Der Weltrekord-Algorithmus aus der TUM beweist: Die Forschung kann das Internet zukunftsfähig machen, wenn sie aus den theoretischen Grundlagen der Nachrichtentechnik technische Lösungen ableiten. Die drei RateX-Erfinder haben aus theoretischen Vorhersagen eine Technik entwickelt, die in der „echten“ Welt funktioniert. Schon das Weltrekord-Experiment fand unter Realbedingungen im deutschen Telekom-Netz statt. Dieser Schritt zurück zur Theorie mag ungewöhnlich sein, doch Nachrichtentechnik-Professor Kramer sieht bereits zahlreiche weitere Anwendungsfälle: Datensicherheit etwa, die Zuverlässigkeit von Netzwerken oder die Architektur neuer und riesiger Serverzentren, die zum Speichern und Verarbeiten der gewaltigen Datenmengen nötig sein werden. „Es gibt vieles, was noch nicht erforscht ist“, sagt Kramer.
„Aus den mathematischen Grundlagen ergeben sich die Rezepte für den Algorithmus. Dieser wird dann in der Praxis ausprobiert. Solange unsere Modelle richtig sind, funktioniert das auch in der Realität. Gerade in jüngster Zeit hatten wir da große Erfolge für die Glasfaserübertragung.“
Gerhard Kramer, 2017, Alexander-von-Humboldt-Professor auf dem Lehrstuhl für Nachrichtentechnik der TUM