Ein Satellit vermisst die Schwerkraft unseres Planeten – und zeigt so, wie es tief im Inneren der Erde aussieht. Selbst für die europäische Raumfahrtagentur ESA ist es spannend, ob dieser Plan wirklich funktioniert. Ein großes internationales Forschungsteam, das von der Technischen Universität München (TUM) koordiniert wird, schafft es: Mit Daten aus dem Weltraum erzeugen sie ein neues Bild unserer Erde. Es sieht aus wie eine Kartoffel.
Im November 2013 verglüht ein Satellit am Himmel über den Falklands, dann stürzt er Richtung Antarktis ins Meer. GOCE heißt er, „Gravity Field and Steady-State Ocean Circulation Explorer“, und dies ist das Ende seiner Mission: Fast fünf Jahre lang hat er für die europäische Raumfahrtagentur ESA die Erde umkreist und an jedem Punkt des Planeten die Schwerkraft vermessen – selbst in Gegenden wie dem Himalaya oder in den Weiten der Antarktis, die zu Fuß kaum zu erreichen sind.
Aus dem All schickt der Satellit regelmäßig Messdaten zur Bodenstation. Nach und nach berechnen Forschende in ganz Europa daraus das präziseste Abbild des Schwerefeldes unserer Erde, das es je gab: jenes erdumspannenden Kraftfeldes, das jedem Objekt auf dem Planeten sein Gewicht verleiht und das auf der Erdanziehungskraft beruht. Koordiniert wird die Auswertung vom Institut für Physikalische und Astronomische Geodäsie der TUM.
„Geoid“ heißt das Bild der Erde, das auf diese Weise entsteht. –, Ein arg verbeultes Bild, das eher aussieht wie eine Kartoffel als eine Kugel. Denn geformt wird es nicht von Kontinenten und Ozeanen, sondern von der Stärke der Schwerkraft – und die ändert sich von Ort zu Ort. Diese teils winzigen Variationen im Schwerefeld zeigen wiederum, wie unterschiedlich dicht das Material im Untergrund der Erde ist. Schließlich wird die Schwerkraft von Masse erzeugt.
Für die Erforschung unseres Planeten sind GOCEs Messdaten von großer Bedeutung: Weltweit entschlüsseln Forschende damit Vorgänge bis zu 200 km unter der Oberfläche : Sie verstehen besser, wie sich Kontinente bewegen und Gebirge auftürmen. Sie erkennen, wie dick das Eis der Polkappen noch ist und welchen Weg die Meeresströmungen nehmen. Sie suchen mit ihnen nach Öl, Gas und heißem Wasser für die Geothermie.
GOCEs Gravitations-Messungen sind so präzise und lückenlos, weil ein neuartiges Instrument ständig die winzigen Differenzen der Erdanziehung an sechs Stellen im Satelliten misst. Gleichzeitig wird per GPS dessen Höhe und genaue Position über dem Globus bestimmt. Das Forschungsteam führt die Daten beider Messreihen mathematisch zusammen – und erhält so die Werte der Schwerkraft an jedem Punkt der Erde. Einer der Initiatoren dieses Experiments ist ein Wissenschaftler der TUM: Reiner Rummel, ein Spezialist für die Erdvermessung mit Satelliten. Er ist es, der die ESA vom wissenschaftlichen Nutzen einer Schwerefeldmission überzeugte und sich dafür Unterstützung aus anderen Fachdisziplinen holte.
Im Nordatlantik, zwischen Grönland und Skandinavien, steigt dichtes und schweres Material aus dem heißen Erdmantel auf und bildet frische ozeanische Kruste. Zwei Kontinentalplatten driften hier am mittelatlantischen Rücken auseinander. GOCEs Beobachtungen aus dem Weltraum zeigen nun deutlich, wie dicht und mächtig die Platten an dieser Stelle sind. Auf den Schwerefeld-Karten ist ein dicker roter Streifen zu sehen, der für besonders hohe Gravitation steht – und damit für eine besonders dichte Masse. Damit können Geophysikerinnen und –physiker zum Beispiel besser abschätzen, wie tief die Erdkruste an dieser Stelle in den flüssigen Erdmantel eintaucht.
Beim Bau des Eurotunnels zwischen England und Frankreich muss das Planungsteam 1988 ein gewaltiges Problem lösen: Auf beiden Seiten des Ärmelkanals gilt ein anderer Meeresspiegel. Wichtige Planungsdaten passen nicht zueinander, weil der angenommene Nullpunkt beider Länder um fast einen halben Meter auseinanderliegt. Dank GOCE gehören Probleme wie diese bald der Vergangenheit an. Seine Satellitendaten machen es erstmals möglich, die Meereshöhe an jedem Punkt der Welt eindeutig festzustellen. Allein in Europa gelten über 20 verschiedene Werte für den Meeresspiegel: Deutschland etwa orientiert sich am Pegel von Amsterdam, Frankreich an Marseille und Österreich an Triest.
„GOCE ist ein Prototyp, der wird raufgeschickt, und alles muss auf Anhieb laufen. Dass die Messsysteme, die wirklich heikel sind, alle funktionieren, finde ich grandios. Das ist eine fantastische Ingenieurleistung und ein großartiger Erfolg.“
Reiner Rummel, 2010, maßgeblicher Initiator der Schwerefeldmission GOCE und bis 2011 Professor für Astronomische und Physikalische Geodäsie an der TUM
Dieses Video der ESA aus dem Jahr 2011 erklärt und zeigt, wie der Satellit GOCE das Schwerefeld der Erde vermisst und wie daraus ein sogenanntes „Geoid“ entsteht. (Copyright: ESA)