Bayern ohne gekühltes Bier? Undenkbar! Doch bis ein junger Ingenieur 1875 die erste praxistaugliche Kältemaschine entwickelt, ist die Kühlung von Getränken sehr aufwändig: Professor Carl Linde von der späteren Technischen Universität München (TUM). Aus seiner Erfindung entsteht ein Weltkonzern. Unseren Alltag prägt sie bis heute – mit weit mehr als gekühltem Bier.
Massen an Eis karren Brauereien noch im 19. Jahrhundert jeden Winter nach München, in warmen Jahren sogar aus Tirol. Sie brauchen tiefe Temperaturen für die Herstellung und Lagerung ihres Bieres – das im Sommer dennoch oft sauer wird. So unterstützen einige von ihnen gerne den jungen Maschinenbau-Professor Carl Linde von der Polytechnischen Schule München. Um 1870 beginnt er mit aufwändigen und teuren Experimenten in der noch kaum erforschten Kältetechnik. Er will eine Kältemaschine bauen. Eine, die erstmals auch für die Industrie nutzbar ist. Und er berechnet: Eis mit einer Maschine herzustellen ist billiger, als Natureis zu gewinnen – den richtigen Wirkungsgrad vorausgesetzt.
Zwar gibt es bereits Kältemaschinen, doch sie schaffen kaum ein Fünftel der naturgesetzlich möglichen Leistung. Lindes erster Prototyp erreicht schon im ersten Versuch einen Wirkungsgrad, der doppelt so hoch ist wie der beste bis dahin bekannte. 1875 ist die Anlage ausgereift, die der Ingenieur zur Dreherschen Brauerei nach Triest liefert. Sie ist so robust und einfach zu bedienen, dass die Nachfrage in der Industrie schnell wächst.
Diese Maschine ist das Vorbild für den modernen Kühlschrank. Mit ihr und mit vielen weiteren Erfindungen verändert Carl Linde die Welt – ob den Handel mit Lebensmitteln, die Medizin oder die Forschung. Sie prägen unseren Lebensstil bis heute. Übrigens: Weil Prinzregent Luitpold den Erfinder 1897 für seine Verdienste adelt, darf er sich fortan Carl von Linde nennen.
Lindes Kompressionskältemaschine und der moderne Kühlschrank arbeiten nach demselben Prinzip: Sie nutzen den physikalischen Effekt der Verdampfungswärme, der beim Wechsel des Aggregatzustands von flüssig zu gasförmig auftritt. Ein flüssiges, zusammengepresstes Gas (das Kühlmittel) verdunstet und entzieht seiner Umgebung dafür Energie in Form von Wärme. Die Umgebung wird kalt. Wie der erste Satz der Thermodynamik besagt, geht die Energie aber nicht verloren, denn sie versetzt die Gasatome des Kühlmittels in Bewegung.
Carl Linde ist der erste Wissenschaftler der TUM, der mit seiner Erfindung ein Unternehmen gründet. Sein Start-up nennt er 1879 „Gesellschaft für Lindes Eismaschinen“ – es ist der heutige Weltkonzern Linde AG. Sein Professorenamt, das für ihn eigentlich den „Gipfel des beruflichen Daseins“ bedeutet, legt er dafür sogar nieder. Später kehrt er als Honorarprofessor an die Hochschule zurück. Bis 1890 liefert seine Firma 1000 Kältemaschinen aus, etwa an Brauereien, Molkereien, Schokoladenfabriken, Schlachthöfe oder Kunsteisbahnen. Mit seinem Vermögen engagiert sich Linde auch für Forschung und Bildung. Beispielsweise stiftet er einen großen Teil des Gründungskapitals für das Deutsche Museum in München.
Ist Luft kalt genug, wird auch dieses Gas – genauer: Gasgemisch – flüssig. Das geschieht bei -189°C. Im Labor von Lindes Firma gelingt die Luftverflüssigung im großen Maßstab erstmals 1895. Wieder ist Linde zwar nicht der erste, der Luft verflüssigt, aber erneut ist das Linde-Verfahren das erste praxistaugliche für die Industrie. Weil die einzelnen Gase in der Luft zudem unterschiedliche Siedepunkte haben, lassen sie sich sauber trennen. Fortan verkauft Lindes Unternehmen auch Gase. Die Metallindustrie braucht Sauerstoff zum Schweißen, für Düngemittel und Sprengstoffe wird Stickstoff benötigt, Luftschiffe fliegen mit Wasserstoff. Und Edelgase wie Argon sind die Füllung für die neuen elektrischen Glühbirnen. Viele Prozesse der modernen Industrie sind heute ohne Industriegase nicht mehr denkbar.
„…wenn es Aufgabe des Naturforschers ist, ‚ohne Rücksicht auf Nutzanwendung‘ zu arbeiten, so erfüllt der Ingenieur die seinige gerade durch möglichst vielseitige Nutzanwendung der Forschungsergebnisse.“
Carl von Linde, Professor für theoretische Maschinenlehre an der Polytechnischen Schule München ab 1868 und Begründer der heutigen Linde AG